Friedrich Glauser und Georges Simenon sind sich nie begegnet. Aufgrund der biografischen Fakten wäre eine Begegnung im Sommer 1937 an der Atlantikküste möglich gewesen.
DAS JAHR 1937 IM LEBEN VON FRIEDRICH GLAUSER UND GEORGES SIMENON
Glauser lebte mit Berthe Bendel von März bis Dezember 1937 in La Bernerie-en-Rez, einem kleinen Seebad südwestlich von Nantes, wenige Kilometer nördlich der Vendée. Er wollte sich in Frankreich eine Existenz als Schriftsteller aufbauen, fern von den Zwängen und wiederholten Internierungen in der Schweiz. Zuvor hatte das Paar in Angles, östlich von Chartres, vergebens versucht, ein marodes Bauerngut zu bewirtschaften. In La Bernerie war das Leben im Frühling 1937 beinahe paradiesisch, die Sonne, das Meer, die Wärme, und Glauser konnte endlich schreiben. Aber gegen den Winter hin setzte auch hier das feuchte Wetter Glausers Gesundheit zu, weshalb er im Dezember mit Berte Bendel nach Marseille abreiste, mit dem Ziel, sich in Tunis niederzulassen. Glauser kannte den Maghreb aus seiner Zeit bei der Fremdenlegion in Algerien und Marokko von 1921–1923. Die Reise endete jedoch wegen fehlender Ausreisepapiere und mit Umwegen in der Schweiz, wo Glauser nach einem Zusammenbruch Anfang Februar 1938 in die Psychiatrische Klinik Friedmatt bei Basel eingewiesen wurde. Er erlitt dort einen schweren Unfall, an dessen indirekten Folgen er, erst zweiundvierzigjährig, am 8. Dezember 1938 starb.
1937 war für Glauser ein wichtiges Jahr, er schaffte den Durchbruch als Schriftsteller, erlangte Bekanntheit. «Matto regiert», Glausers dritter Studer-Roman, der im Januar aber noch vor dem zweiten Studer-Roman «Die Fieberkurve» erschien, löste einen kleinen Skandal aus, weil sich einige Personen darin zu erkennen glaubten, worauf der Berner Regierungsrat eine Konfiszierung des Buches in Erwägung zog. Wegen der ewigen Geldnöte stand Glauser unter enormem Druck zu produzieren, er schrieb in diesem Jahr an drei Studer-Romanen gleichzeitig: an der siebten Überarbeitung der «Fieberkurve», am Wettbewerbsroman «Der Chinese» und seit Mai an einem Auftragsroman «Die Speiche» für den Beobachter. Zudem hatte ihm Josef Halperin die Veröffentlichung seines Legionsromans «Gourrama» (den Glauser als sein Meisterwerk betrachtete) zugesagt – wenn er ihn überarbeite. Um diese Arbeitsmenge zu bewältigen, griff Glauser einmal mehr zu Morphium, gefolgt von den unvermeidlichen Beschaffungsproblemen, Abstürzen und einer abgebrochenen Entziehungskur im Juli in der Schweiz. Er schaffte es jedoch, bis Ende 1937 seine Manuskripte mehr oder weniger abzuschließen und gewann im Februar 1938 mit dem «Chinesen» den ersten Preis beim Wettbewerb des Schweizerischen Schriftstellervereins. (Gerhard Saner, Friedrich Glauser – Eine Biographie, Suhrkamp, Zürich 1981)
Simenon verbrachte den Frühling 1937 mit seiner Frau, der Malerin Régine Renchon, im «Tamaris» auf der Insel Porquerolles vor der Côte d’Azur. Es ist nicht bekannt, wo er sich anschließend bis Ende Juli aufhielt. Im August reiste das Ehepaar durch Italien und machte danach Urlaub auf der Isola dei Pescatori am Lago Maggiore. Die schwere Depression von Régine und ihrer beider zunehmender Widerwille gegen das elitäre Leben in Paris führten dazu, dass das Ehepaar Simenon im Herbst 1937 ein Haus auf dem Land und am Meer suchte und südlich der Vendée, in der Nähe von La Rochelle, in Nieulsur-Mer fündig wurde. Sie kannten und liebten die Gegend, da sie bereits von 1932–1934 im Nachbarort Marsilly das Gut La Richardière gemietet hatten.
1937 markierte im Leben des vierunddreißigjährigen Simenon nach der mondänen Pariser Welt den Übergang zu einem einfacheren, wahrhaftigeren Leben auf dem Lande, wo er sich wieder Inspiration zum Schreiben erhoffte. 1934 hatte er seine überaus erfolgreiche Maigret-Reihe beendet, die ihn reich und berühmt gemacht hatte, um endlich «wahre» Literatur zu schreiben. Sein erster großer literarischer Roman «Das Testament Donadieu» erschien im März 1937, wurde von der Kritik jedoch gemischt aufgenommen. Zudem verkauften sich seine Nicht-Maigret-Romane weniger gut, während er mit Maigret-Novellen (eine erste Serie erschien Ende 1936 und eine zweite 1938) gut verdiente. So schrieb Simenon im Frühjahr 1938 eine neue Serie von dreizehn eher unbeschwerten Erzählungen, in denen ein Landarzt in Marsilly als Laienermittler Verbrechen aufklärt: «Le Petit Docteur», veröffentlicht ab November 1939 in der Monatszeitschrift «Police-Roman». Danach holte Simenon seinen pensionierten Kommissar Maigret endgültig ins Berufsleben zurück und schrieb ab 1939 wieder Maigret-Romane. Die ersten drei wurden im Kriegsjahr 1942 als Sammlung unter dem Titel «Maigret revient …» veröffentlicht. Danach folgten bis 1972 über sechzig weitere Maigrets-Romane und -Novellen. (www.simenon.com → World of Simenon → Simenon a timeline und www.toutsimenon.com → L’Homme → Biographie → 1924 à 1945)
DER «TATORT» SAINT-JEAN-DE-MONTS UND SEINE GESCHICHTE
Ort beider Handlungen, des Gesprächs zwischen Glauser und Simenon sowie der Kriminalgeschichte, ist Saint-Jean-de-Monts alias Saint-Georges. Dieses Seebad an der französischen Atlantikküste im Departement Vendée ist mir seit vielen Jahren vertraut, alle vorkommenden Örtlichkeiten existieren, bzw. sind in Saint-Georges an die fiktionalen Erfordernisse angepasst.
Dem Roman liegen umfangreiche Recherchen zur Geschichte des Ortes zugrunde, zum Beispiel zum Flugabwehr-Ausbildungscamp der Amerikaner in Saint-Jean-de-Monts gegen Ende des Ersten Weltkrieges (Pierre Averty, Les Américains en Pays de Monts 1917–1918, Challans o. J.) und zur Entwicklung des alten Marktfleckens zu einem populären Seebad (Pierre Farcy, Un demi siècle de vie à Saint-Jean-de-Monts en cartes postales 1890–1940, Raynard, La Guerche de Bretagne 1983; Jean-Pierre Bertrand, Saint-Jean-de-Monts et le Pays de Monts de 1890–1930, Editions Siloë, Laval 2003; Le canton du Pays de Monts 1920–1960, Hrsg. Communauté de communes Océan-Marais de Monts, Poiré-sur-Vie 2012; Kat. Ausst.: Destination Vacances ! Vendée rêvée, Vendée rélévée 1820–1970, Historial de la Vendée, La Roche-sur-Yon 2017)
Die Küste, Côte de la lumière genannt, war bei den Malern beliebt. Mit dem Aufschwung zum Seebad siedelte sich in Saint-Jean-de-Monts zwischen der Jahrhundertwende und dem Zweiten Weltkrieg eine Künstlerkolonie an, die von vermögenden Sommergästen, Sammlern und Mäzenen lebte, wie dem Hotelier Alcide Guériteau des Hôtel de la Plage.
Der Maler René Levrel (1900–1981) war einer von ihnen, er verbrachte ab 1930 die Sommer in Saint-Jean-de-Monts. Das erste Jahr als Gast bei Alcide Guériteau, wo sein Meisterwerk «Hôtel de la Plage» entstand, das Umschlagbild des vorliegenden Buches:
«Es zeigt die Terrasse des Hôtel de la Plage im warmen Licht eines Sommerabends. Eine Serviererin in der Tracht der Maraîchins steht im Vordergrund. Mehrere Tische sind besetzt mit Hotelgästen, rechts sitzen elegante Damen mit Hut in luftigen Sommerkleidern auf Korbstühlen und plaudern um einen blumengeschmückten Tisch herum. Unter den orangegestreiften Markisen im Hintergrund der Strand, die Strandkabinen und das Gebäude des Café de la Plage.» (Le groupe de Saint-Jean-de-Monts. Deux générations d’artistes dans le marais vendéen 1892–1950, Hrsg. Christophe Vital, Somogy éditions d’art,Paris 2000, S. 104)
Die Authentizität eines Romans, der 1937 spielt, verlangte ebenso, dass alle historischen Details des Lebens in den dreißiger Jahren mit größter Präzision recherchiert wurden. Die persönliche Sammlung von zahlreichen alten Ansichtskarten diente als verlässliche Quelle für die zeitgetreue Schilderung von Straßen, Häusern, Stimmungen, Szenen wie auch Aktivitäten und Kleidern von Einheimischen und Sommergästen.
QUELLENNACHWEIS FÜR DEN VORLIEGENDEN ROMAN
Den fiktiven Gesprächen zwischen Glauser und Simenon wurden Aussagen der beiden aus verschiedenen Quellen unterlegt. Dies geschah durchaus im Wissen, dass autobiografische Texte
wie auch manche Briefe keine biografischen «Wahrheiten» sondern vom Verfasser inszenierte Selbstbilder darstellen.
Bei Friedrich Glauser konnte als wichtigste Quellen auf die Werkausgaben seiner Briefe zurückgegriffen werden (Briefe 1 + 2, Hrsg. Bernhard Echte / Manfred Papst, Arche, Zürich 1988/91; Jeder sucht sein Paradies …, Hrsg. Christa Baumberger, Limmat, Zürich 2021) sowie auf die Biografie von Gerhard Saner, ebenso auf Glausers zahlreiche autobiografischen Erzählungen (Das erzählerische Werk, 4 Bände, Hrsg. Bernhard Echte, Limmat, Zürich 1992/93) und auf den kleinen Erinnerungsband (Erinnerungen an Friedrich Glauser, Hrsg. Heiner Spiess / Peter Erismann, Limmat, Zürich 1996/2008).
Bei Georges Simenon dienten jeweils die französischen Originaltexte als Grundlage: die Biografie von Pierre Assouline (Julliard, Paris 1992), die umfangreiche Publikation zur Ausstellung im Historischen Museum des Departementes La Vendée (Kat.Ausst.: Georges Simenon – De la Vendée aux quatre coins du monde, Historial de la Vendée, Somogy éditions d’art, Paris 2011), autobiografische Werke (Pedigree, 1948; Les mémoires de Maigret, LGF, Paris 1951; L’âge du roman, Le regard littéraire, Edition complexe, Bruxelles 1988; Mémoires 1 + 2, Tout Simenon, Band 26 und 27, Omnibus, Paris 2004), der Briefwechsel mit André Gide (… sans trop de pudeur, Correspondance 1938–1950, Carnets Omnibus, Paris 1999) sowie verschiedene Interviews (u. a. mit Bernard Pivot 1981).
Die Kriminalgeschichte schließlich, die Glauser und Simenon bei ihren angeregten Gesprächen über das Schreiben erfinden, sollte auch wie ein echter Wachtmeister-Studer-Roman oder nach dem Stil eines Maigret- Romans klingen. Mittels umfangreicher sprachlicher Analysen der frühen Maigret-Romane (erste Maigret-Phase 1931–1934) und aller Wachtmeister Studer-Romane wurden typische stilistische Eigenheiten der Autoren sowie Ausdrücke und Redensarten der Figuren gesammelt. Um den «O-Ton» möglichst zu treffen, sind zahlreiche Originalsätze aus ihren Romanen in die Kriminalhandlung eingebaut (französische Zitate wurden von mir ins Deutsche übersetzt). In den von Glauser «erzählten» Studer-Abschnitten sind bewusst Helvetismen gesetzt, jedoch nur sehr spärliche Dialektismen.
Ebenso wurde die gemächliche, detailreiche Art des Erzählens, die dem damaligen Stil und Zeitgefühl entspricht, von Glauser und Simenon übernommen: das Verweilen bei scheinbaren Nebensächlichkeiten, das Beschreiben von überraschenden Eigenheiten bei Menschen, Wetter, Stimmungen – viel «Menschliches» in den Beobachtungen von Wachtmeister Studer und Amélie Morel.