NZZ am Sonntag, 26. Juni 2016, Charles Linsmayer
«Der Mann, der nicht Marty sein will, erinnert zunächst unwillkürlich an jenen anderen, der nicht Stiller sein wollte. Auch diesen hielt die Umgebung ja unbeirrt für den, der er nicht (mehr) sein wollte, auch da spielte der Frust über die Karriere und das Zerbröseln der Ehe eine Rolle, und ein Satz wie «Er kommt aus einem Land, da sind immer alle unschuldig» könnte ebenso gut von Frisch stammen. Aber Ursula Haslers Roman über einen Mittfünfziger, der sich nach fünf albtraumhaften Monaten als «ins Leben geworfenen und nicht gezündeten Blindgänger» sieht, bewegt sich in eine völlig andere, ganz und gar nicht epigonale Richtung.[…] Der Ausweg an den «Sehnsuchtsort Royan», den er ins Auge gefasst hat, ist versperrt, und dem «Blindgänger» Marty bleibt nur die Weiterexistenz in einem ungeliebten Beruf und an der Seite einer ungeliebten Frau. Sofern man denn alles für bare Münze nimmt, was in dem nachträglich erfundenen Bericht über den Aufenthalt in Royan steht. Und sofern man einer Autorin auf den Leim geht, die ein aus vielerlei Facetten und Ingredienzen komponiertes virtuoses Vexierspiel mit der Leserschaft treibt. Obwohl als literarisches Debüt angekündigt, hat das Buch bis auf ein paar harzig laufende Übergänge nämlich keineswegs die Schwächen eines Erstlings, sondern profitiert unverkennbar vom Know-how der Verfasserin als Germanistin, Psychologin, Historikerin und exzellenter Frankreich-Kennerin.
Zwischen den Extremen, dass Marty wirklich sein Gedächtnis verloren hat bzw. dass er alles nur spielt, gibt es jede Menge Deutungsvarianten in diesem Text, den sein fiktiver Verfasser ja auf ärztliche Anordnung hin bewusst erfindet. […] Wie immer man das virtuose Geflecht aus Erfindung, Lüge und Wahrheit deuten mag, das Ursula Hasler in dieser Geschichte eines am Leben scheinbar Gescheiterten vorlegt: mit der psychiatrisch verordneten Erfindung seines eigenen Lebens und Schicksals hat Marty sich selbst aus dem ungeliebten Schuldienst befreit und ist zum Erzähler geworden, zum Verfasser eines Romans, bei dem einem vor lauter Staunen und unerwarteten Wendungen Hören und Sehen vergeht und mit dem für einmal das Wunder des späten Debüts einer Autorin Wirklichkeit geworden ist, die gleich schon vor einem steht, als sei das vorgelegte Buch der Höhepunkt einer langen Reihe.»
Tages-Anzeiger, 1. Juni 2016, Martin Ebel
«Kann man seine Vergangenheit gleich mehrfach verlieren? Dem Helden von Ursula Haslers Roman «Blindgänger» geschieht das. Nicht nur, dass er, ein aus einem Waisenhaus adoptiertes Kind, nicht weiss, wer seine Eltern sind, was er erst als 30-Jähriger, zufällig und schockartig, erfuhr; er sieht sich nach einem Zusammenbruch auch plötzlich ohne jedes Gedächtnis. […] Aber ohne das Wissen, was man die vergangenen 58 Jahre getan hat, fehlt ihm auch die Persönlichkeit, die Identität. Wie soll er die Gegenwart bewältigen, gar die Zukunft? Ursula Hasler, Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, hat für ihr Romandebüt eine vielversprechende Konstellation gewählt. Auch eine schwierige. Denn der Mann ohne Vergangenheit will diese wiederfinden; nicht nur die unmittelbare, sondern auch seine Herkunft. […] Ursula Hasler kann schreiben; flüssig, schlackenfrei, oft elegant.»
Deutscher Bibliotheksdienst ekz, 28. Juni 2016, David Cappel
"Blindgänger" ist das spannende, literarisch anspruchsvolle Romandebüt der Schweizer Germanistin und Psychologin Ursula Hasler. Ihre filigrane und präzise Sprache lässt Jean-Pierres Identitätssuche zu einer komplexen Feldstudie werden, in der wir als neutrale Beobachter aus verschiedenen Perspektiven geschildert bekommen, wie sehr ein ganzes Leben von den Erinnerungen an die eigene Geschichte abhängen kann. Spätestens ab Jean-Pierres ersten Tagebucheinträgen eine faszinierende Rekonstruktion eines ganzen Lebens. Dieser wohltuend behutsam erzählte Roman passt in jeden ausgebauten Belletristikbestand.
Aargauer Zeitung, 2. Mai 2016, Flavia Bonanomi
«Jean-Pierre Marty ist kein Held: Seine Ehe ist nicht mehr, was sie einmal war, sein Beruf erfüllt ihn nicht mehr wie einst. Doch das grösste Problem des Protagonisten ist, dass er das alles gar nicht mehr weiss. Er leidet unter Amnesie, verursacht durch einen Sturz. Dort setzt «Blindgänger» ein: «Ich wollte der Frage nachgehen, wie das Erzählen die Erinnerung beeinflussen kann; wie sich der Prozess der Erinnerung durch Narration verändert», sagt die Autorin. Die Therapie sieht vor, dass er seine Vergangenheit, von der er nichts mehr weiss, aufschreiben, seine Lebensgeschichte frei erfinden soll.
Was den Lesenden von der ersten Seite, ja, vom ersten Satz an packt, ist die Nähe des Geschriebenen. Durch den unmittelbaren Einstieg und die distanzierten Schilderungen eines leicht frustrierten Psychiaters ist man als Lesender stets genau auf demselben Stand wie Marty. …»
EnnetbadenerPost, 2. Mai 2016, Urs Tremp
«Ein Mann verliert sein Gedächtnis, er verliert sein Gesicht – oder, wie es im Roman «Blindgänger » von Ursula Hasler heisst: Er findet ein neues. Was für den ihn behandelnden Psychiater zu Beginn wie eine übliche psychische Erkrankung erscheint, erweist sich als tückischer: Jean-Pierre Marty hat eine komplexere und tiefgründigere Lebensgeschichte als es seine etwas langweilige Existenz als Französischlehrer vermuten lässt. Das Erzählen von Geschichte und damit das Erschaffen von Identität – individueller und kollektiver – ist der Inhalt von «Blindgänger», dem ersten Roman von Ursula Hasler. Es habe sie gereizt, sagt die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin, das Thema Sprache und Erinnerung für einmal nicht wissenschaftlich zu untersuchen, sondern «als Erzählung aufzuarbeiten ». Dass Martys Reise in die Vergangenheit nach Frankreich führt, ist nicht ganz überraschend. Ursula Hasler hat einst selbst in Royan gelebt und die Geschichte der Stadt im 2. Weltkrieg recherchiert. «Mich hat interessiert, wie die Leute dort die Besatzungszeit erlebten, die vier Jahre Alltag in einem Ausnahmezustand.» «Blindgänger» erzählt einerseits Martys private Geschichte, aber auch davon, wie der 2. Weltkrieg das Schicksal von Menschen geprägt hat.»
lesefieber.ch, 18. Oktober 2016, Manuela Hofstätter
https://www.lesefieber.ch/buchbesprechungen/ursula-hasler-blindgaenger/
«Fazit: Kann man seine Zukunft gestalten, ohne eine Vergangenheit zu haben?
Wie wichtig ist es zu wissen, wer man ist, welche Familie und Vergangenheit man hat? Ursula Hasler schafft es, uns auf diese Frage einige Denkansätze zu liefern und wir lesen ihren Roman atemlos. Ein Mann verliert sein Gedächtnis und schlittert dadurch schon ein zweites Mal in eine schwere Lebenskrise, denn auch schon damals, als er erfahren hat, ein adoptiertes Waisenkind zu sein, verlor er den Boden unter den Füssen. Wir erfahren von der Zeit in Frankreich und von einer ganzen Familien- und Liebesgeschichte während der Wehrmachtszeit an der Atlantikküste. Eine grossartige, bewegende Geschichte mit historischen Fakten, die uns erschüttern und dann spannt die Autorin den Bogen elegant fertig, wir landen wieder bei Jean-Pierre Marty, oder wer auch immer er ist oder sein will.»
St. Galler Tagblatt, 28. Juli 2016, Hansruedi Kugler
Man ist, was man aus seinem Leben macht, nicht woher man stammt. Das muss der Schweizer Gymnasiallehrer Marty hören, als er auf der Suche nach seinen leiblichen Eltern an die französische Westküste fährt. Dort ist er 1945 geboren und als Kriegswaise in der Schweiz adoptiert worden. Nun aber liegt er in einem Schweizer Spital, hat sein Gedächtnis verloren. Mit derFremdheit im eigenen Körper und der ruppigen Ablehnung seines Ichs erinnert Marty an Max Frischs «Stiller». […] Anhand früherer Notizen «erfindet» Marty eine für ihn stimmige Geschichte. Er hatte sein Leben als frustrierter Lehrer und Ehemann für leer und gescheitert erklärt, in Frankreich Antworten zu seiner Herkunft gesucht. […] Wie die Autorin die Erzählebenen und Perspektiven montiert, ist sehr frisch. Nicht zuletzt ist der Roman hervorragend recherchiert.»
Schaffhauser Nachrichten, 3. April 2017, Wolfgang Schreiber
«Die Handlung dieses Romanerstlings erschliesst sich einem allerdings nicht so ohne Weiteres beim ersten Lesen. Ja, wie weiss man, wer man ist? Was ist los, wenn mit dem Gedächtnis auch die Identität abhandenkommt? Wenn man in den Spiegel schaut und einen Schock erlebt: Dieses Gesicht im Spiegel, das soll ich sein? Niemals!»
Züriberg, 22. September 2016, Nele Fischer
«Die nette Frau, die behauptet, meine Frau zu sein, hat mir gestern den Laptop ihres Mannes mitgebracht»: Der Beginn des Buchs katapultiert die Zuhörer sofort in die verzwickte Situation des Protagonisten Jean-Pierre Marty. Als er nach einem Sturz wieder im Krankenhaus aufwacht, weiss er nichts mehr über die Person, die er einmal war. Er leidet unter einer Amnesie. Angeblich ist er ein eher farbloser Französischlehrer, verheiratet und Vater einer sechzehnjährigen Tochter. Vor seinem Unfall verbrachte er ein Freisemester in Royan an der französischen Atlantikküste. Mithilfe des Tagebuchs auf seinem Laptop rekonstruiert er auf Anraten eines Psychologen die Geschichte seines Sommers in Royan. Wunsch und Realität beginnen sich immer mehr zu vermischen. Akzeptiert Marty seine alte Persönlichkeit, oder erfindet er sich komplett neu? Die komplexe, psychologische Thematik liegt Ursula Hasler. Die in Schaffhausen aufgewachsene Autorin studierte in Zürich Germanistik und Psychologie. Wie sie während der anschliessenden Fragerunde verrät, entsprang «Blindgänger» tatsächlich einer wissenschaftlichen Fragestellung. «Als Sprachwissenschaftlerin interessierte mich der Zusammenhang von Sprache und Erinnerung, wie die Erinnerung durch verbale Erzählungen verändert werden kann», erklärt Ursula Hasler. […] Mithilfe von Zeitzeugenberichten arbeitete die Autorin den historischen Teil komplett auf. Das bemerkenswerte Wissen, das sie sich dabei aneignete, spiegelt sich in den lebhaften Beschreibungen des Romans wieder. «Blindgänger» entführte die Zuhörer an diesem Abend für eine gute Stunde in einen Sommer am französischen Atlantik.»
Giessener Allgemeine, 10. Dezember 2016, no
»Blindgänger« Auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober Marcus X. Schmid getroffen. Der Autor aus der Schweiz kennt sich aus in Frankreich – nicht nur wegen seiner auf dieser Seite mehrfach vorgestellten Reiseliteratur, die er für den Michael Müller Verlag abliefert. Sein Tipp: »Blindgänger«, Debütroman seiner Landsmännin Ursula Hasler. Gelesen, um nicht zu sagen aufgesogen, und sofort beschlossen: Das kommt bei Père Noël in den Geschenkesack.»
Sempacher Woche, 30. Mai 2016, Margrit Lustenberger
«Ist das Verlieren des Gedächtnisses ein Unglück oder die Chance für einen Neubeginn? Dieser Frage geht die Autorin in diesem berührenden Roman nach. […] Ein Roman, der spannend und eindrücklich verschiedene Themen aufgreift: Die Suche nach dem verlorenen Gedächtnis und den eigenen Wurzeln, die Befindlichkeit und fehlende Erfüllung im Beruf, eine verfahrene und unbefriedigende Ehesituation und die belastende Frage, wer bin ich nun eigentlich? Ein Buch mit Sogwirkung, das noch lange nachwirkt!»